Warum werden 20.000 mehr Kinder seit 2006 in Bayern geboren?

Unerwartet wuchs die Zahl der Geburten in Deutschland in den letzten Jahren. Wurden 2006 nur knapp 105.000 Kinder in Bayern geboren, sind es gut 10 Jahre später 126.000 Babys.

Innerhalb von nicht mal fünf Jahren schnellte die Fertilitätsrate von durchschnittlich 1,36  auf 1, 56 Kinder pro Frau in Deutschland hoch (Pötzsch 2018, 74). Die Zahl der Landkreise in Bayern, in denen Frauen im Durchschnitt 1,6 Kinder oder mehr zur Welt brachten, erhöhte sich von 6 auf 52 zwischen den Jahren von 2014 bis 2017.

Geburten pro Frau

Für die Planung der sozialen Infrastruktur ergibt sich damit ein unerwarteter Bedarfsanstieg. Somit stellt sich die Frage, wie wird sich diese Entwicklung fortsetzen? Was sind die Hintergründe für diese Entwicklung?

TFR2017 Lkr Bayern
Unterschied Wunschkinder und geborene Kinder

Kinderwünsche seit Jahrzehnten konstant bei 2 Kindern

Die Anzahl der Wunschkinder veränderte sich in den letzten Jahrzehnten kaum. Sie lag bei etwa 2 Kindern pro Frau. Betrachtet man den Geburtenanstieg aus dieser Perspektive, stellt sich nicht so sehr die Frage, warum es in den letzten Jahren mehr Kinder gibt. Denn der aktuelle Durchschnittswert von 1,56 Kinder liegt ja deutlich unter 2 Kinder.
Die Frage, die sich aufdrängt, ist, warum liegt die Zahl der geborenen Kindern pro Frau unter dem Wunschwert und wieso wurden in der Vergangenheit noch weniger Kinder als in den letzten Jahren geboren?

Verzögerungseffekt: nicht weniger Kinder, sondern im späteren Lebensalter

Es gibt vielfältige Gründe, warum nicht alle Wunschkinder geboren werden: fehlende finanzielle Ressourcen, mangelnder Wohnraum, die fehlende Vereinbarkeit von Kindern und Beruf. Leider lag auch ein Grund in der Fehleinschätzung vieler Wissenschaftler, die über lange Jahre die Geburtenrate unterschätzten.

In den letzten 30 Jahren verschob sich das sogenannte „Erstgebärendenalter“, von Anfang 20 auf Anfang 30. Der Prozess verlief schleichend und konnte lange Zeit nicht identifiziert werden. Verlegen viele Frauen ihren Kinderwunsch in ihr drittes Lebensjahrzehnt, sinkt zunächst die Zahl der geborenen Kinder und die akutelle Geburtenrate. Das ist der von Demografen meist verwendete Wert.

geborene Kinder pro Geburtsjahrgang in Deutschland

Seit den 1990er Jahren verblieb der statistische Wert, die sogenannte Total Fertility Rate (TFR), unter 1,5 Kinder pro Frau (vgl. Grafik). Im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor, in denen die Anzahl der Kinder bei 1,5 oder deutlich über diesen Wert lag, nahmen viele Demografen und später diesen Wert mit Besorgnis wahr.

Fehleinschätzung der Geburtenrate

Warum bekommen Frauen keine Kinder mehr? Wie sich kürzlich herausstellte, bekamen Frauen tatsächlich kaum weniger Kinder, sondern viele Frauen verlagerten den Zeitpunkt der ersten Geburt auf einen späteren Lebenszeitpunkt.

Die Zahl der Kinder, die von Frauen geboren werden, werden in der Grafik mit rot dargestellt. Je dunkler die Farbwerte, umso mehr Kinder werden geboren.

Dunkle Farbwerte erkennt man bei den unter 30-jährigen Frauen, die von 1930 bis 1940 geboren wurden. Das Dunkelrot zeigt den Babyboom der Nachkriegsjahre auf. 1973 wird er relativ scharf abgelöst.

Frauen bekommen in den folgenden Dekaden in den 1980er und 1990er Jahren in jungen Jahren sukzessive weniger Kinder. Zu erkennen ist die starke Abnahme der „jungen“ Mütter ab dem Geburtsjahrgang 1960. Im Laufe der Zeit nimmt die Zahl der Mütter mit 30 und mehr Jahre langsam zu. Das sind die Jahrgänge, diee Ende der 1960er bis in die 1970er Jahre geboren wurden. Insgesamt nahm die Zahl der Kinder leicht ab. Die Geburtenrate reduzierte sich nicht in dem dramatischen Ausmaß, wie bisher angenommen. Der Verlagerungseffekt drückte die statistische aktuell gemessene Geburtenrate zeitweilig nach unten.

geborene Kinder pro Frau nach Lebensalter

Dieser statistische Messfehler trifft vor allem für Ostdeutschland zu. Vor allem in Ostdeutschland verschieben Frauen häufiger ihren Kinderwunsch in spätere Lebensjahre. Dies lässt sich durch die helle Wolke für die Zeit nach 1990 identifizieren. Wie man sieht, holen die nach 1960 geborenen Frauen den Kinderwunsch in späteren Lebensjahren nach. Dadurch wird die Geburtenrate lange Jahre statistisch unterschätzt.

Das hier genutzte Maß, die sogenannte Kohortenfertilitätsziffer, gibt an, wie viele Kinder Frauen bestimmter Geburtsjahrgänge tatsächlich im Laufe ihres Lebens geboren haben. Dieses Maß kann nur dargestellt werden, wenn Frauen die fertile Phase mit etwa 42 Jahren verlassen. Deswegen sind hier nur die Geburtsjahrgänge bis 1973 dargestellt.

Eine zweite wichtige Nachricht dokumentiert die Abbildung noch. Der deutlichste Rückgang bei der Zahl der geborenen Kinder zeigen die Geburtsjahrgänge von 1935 mit noch 2,2 Kinder pro Frau bis zum Geburtsjahrgang 1960 mit 1,6 Kindern. Dies kann besonders gut für die Zeit vor der Ölkrise identifiziert werden. Danach schwankt die Kinderzahl nur noch geringfügig.

Rückgang der Geburtenrate seit 1960er Jahre

Ein Rückgang der Geburten kann drei Ursachen haben: die Zahl der kinderlosen Frauen nimmt zu oder die Zahl der Geschwisterkinder geht zurück und die Kombination von beiden.

Gemeinhin wird mit einem zunehmenden Anteil der gebildeten Frauen, der Rückgang der Geburtenrate assoziiert. Gerne wird hier das Bild der kinderlosen Akademikerin in Großstädten bemüht, um die geringe Zahl der Geburten in der Nachkriegszeit zu erklären.

Neuste Forschungen stellen diese Binsenwahrheit mit starken Indizien in Frage. Doch bevor dies diskutiert werden soll, bleibt zunächst die Frage zu beantworten, welche Faktoren in Deutschland zum Rückgang der Geburten führte: Kinderlosigkeit z.B. von Akademikerinnen oder eine Reduzierung der Familiengröße?

Abnahme Familiengröße, weniger Kinderlosigkeit reduziert Geburten

Bujard und Sulak, Bevölkerungswissenschaftler am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung des Bundesamtes für Statistik, untersuchten die Ursachen (2016, 509): „68,0% [des Geburtenrückgangs ist] auf den direkten Effekt des Rückgangs von Geburten der dritten oder weiteren Kinder zurückzuführen […] und nur zu 25,9% auf den direkten Effekt der Zunahme der Kinderlosigkeit. Der Interaktionseffekt aus beidem beträgt 6,1%“

Großfamilie
Einzelkind -Bildquelle: phxere

Interessant ist ferner die Abfolge der Faktoren: Frauen der Geburtsjahrgänge von 1933 bis 1947, die vor der Gründung der Bundesrepublik geboren wurden, reduzierten die Anzahl der Kinder. Dies betraf vor allem Frauen im ländlichen Raum. Der Anteil der kinderlosen Frauen blieb bis in die 1970er Jahre lange Zeit mit 10 % relativ konstant. Die späteren Geburtsjahrgänge 1948 bis 1968 gebaren ab Mitte der 1970er Jahren zunehmen seltener ein Kind. Der Wert der kinderlosen Frauen stieg dann auf 20%.

Dies hat zwar Auswirkungen auf die Geburtenrate. Sie fallen jedoch deutlich schwächer aus, wie Bujard und Sulak feststellten, als eine Abnahme der Kinderzahl in den Jahrzehnten davor. Ein gutes Beispiel für den deutlich geringeren Einfluss der kinderlosen Frauen auf die Fertilität zeigt sich heute in Irland.  In Irland, dessen Bevölkerung über eine Geburtenrate seit Jahren über 2,1 Kinder aufweist, bleiben 21 % der Frauen kinderlos. Die Bevölkerung Irlands ist jedoch immer noch auf Selbsterhaltungsniveau.

Kinderlosigkeit wurde lange Zeit missbilligend als Ursache für die niedrige Geburtenrate benannt. Viele politischen Maßnahmen, wie beispielsweise der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, zielen auf die Reduzierung der Kinderlosigkeit ab. Nur wenige Politiken unterstützen bisher große Familien. Wenn die Zahl der Geburten jedoch stärker über diesen Faktor gesteuert wird, bleibt es notwendig, sowohl die Entstehung großer Familien besser zu verstehen wie auch die Politiken daraufhin besser zu entwickeln.

Ursachen für den Geburtenanstieg ab 2014

Welche Faktoren sind für den Geburtenanstieg verantwortlich?

Olga Pöltzsch, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem oben genannten Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, hat dies untersucht. Sie benennt den Anstieg der Geburtenhäufigkeit bei deutschen Müttern als wichtigsten Faktor (siehe Abbildung). Dieser hat zu über 40.000 Geburten mehr im Jahr 2016 als im Jahr 2012 geführt.

Als zweiter Faktor ist die deutliche Zunahme von ausländischen Frauen, die überwiegend aus dem EU-Ausland, aber zum Teil auch aus den Flüchtlingsgebieten im Nahen Osten und anderen Ländern kommen. Durch die Zunahme der ausländischen Frauen im fertilen Alter zwischen 15 und 45 Jahren wurden mehr als 30.000 Kinder mehr 2016 als 2012 geboren.

Drittens hat sich auch die Geburtenhäufigkeit bei ausländischen Frauen erhöht. D.h. viele Frauen, die ursprünglich im Ausland geboren wurden und jetzt in Deutschland leben, bekommen mehr Kinder als vor 5 Jahren. Sie haben kinderreichere Familien.

Schließlich nahm die Zahl der deutschen Mütter zu, weil mehr Frauen in Deutschland im Vergleich zu den Vorjahren in das fertile Alter eintraten. Jedoch führt dies nur zu einer Zunahme von einigen Tausend Geburten. Dieser Faktor ist im Vergleich zu den anderen hier genannten Faktoren relativ unbedeutend.

Bei dem Anstieg der Geburtenrate spielen wiederum große Familien eine bedeutende Rolle: Deutlich mehr Geschwisterkinder (zweite und weitere Kinder) wurden in der Zeit von 2012 bis 2016 geboren. Pötzsch schreibt: „Der Anteil der höheren Geburtenfolgen ist …im selben Zeitraum angestiegen: bei zweiten Kindern von 34 auf 35 %, bei dritten Kindern von 11 auf knapp 12 % und bei vierten und weiteren Kindern von 5 auf knapp 6%.“ (Pötzsch 2018, 79).

Mehr Bildung, mehr Wirtschaftswachstum, mehr Geburten

In der renommierten Zeitschrift „Nature“ zog der aktuelle Leiter des Max-Planck-Instituts für Demographie, Myrskylä mit seinen Kollegen Kohler und Billari, die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich. Sie beschreiben eine Veränderung der Geburtendynamik. Dabei zeigen sie auf, dass Industrieländer mit einem Human Development Index (HDI) seit Mitte der 1970 Jahre steigende Geburtenraten aufweisen. Sie widerspricht der langzeitigen Beobachtung, dass mit der Industrialisierung der Länder in der Regel die Geburtenrate sinkt.

Der HDI wurde vom United Nations Entwicklungsprogramm entwickelt, um den Lebensstandard anhand des Einkommens, Gesundheitsbedingungen, Lebensstandard und Bildung zu messen. Nimmt der HDI zu, sinkt auch die Geburtenrate in der Regel, weswegen für die Kinder in Entwicklungsländern zunehmende bessere Lebensbedingungen und eine Verlangsamung der Bevölkerungszunahme Hand in Hand gehen.

Viele Industrieländer erreichen inzwischen einen Wert von 0,85 auf der Skala bis 1. Dies sind führende Industrieländer wie Australien, Norwegen, Irland, Schweden, Kanada. Sie zeigen gleichzeitig höhere Geburtenraten. Diese Länder bieten verbesserte Arbeitsmarktbedingungen für Frauen, ein hohes Maß an sozialer Absicherung, zunehmende ökonomische Gleichstellung von der Geschlechter. Sie zeichnen sich durch wachsenden Anteil an qualifizierten und hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und -nehmern aus.  Deshalb vermuten Myrskylä und seine Kollegen diese Faktoren als Treiber der Entwicklung.

Mit anderen Worten, solange die wirtschaftliche Situation sich weiterhin positiv entwickelt und Frauen, die Möglichkeit haben, auf öffentliche Betreuung zurückzugreifen, ist es weiter wahrscheinlich, dass die Geburtenrate weiter leicht steigt.

Kipppunkt Geburtenrate

Fazit: Geburterate bleibt bei guter wirtschaftlicher Lage hoch

Die steigene wirtschaftliche Entwicklung führt in vielen Ländern zu einem Anstieg der Geburtenrate. Dies ist in Zukunft in Deutschland zu erwarten.

Mit einer guten konjunkturellen Lage gehen noch weitere positive Faktoren einher: Der Zuzug von ausländischen Frauen, vor allem aus dem EU-Ausland, wird weiter zunehmen. Solange die wirtschaftliche Situation in Deutschland, Arbeitskräfte nachfragt, wird sich der Zuzug und damit eine Erhöhung der Anzahl der Geburten aus dieser Sicht nicht reduzieren.

Schließlich ist als letzter Faktor noch die Situation von Mehr-Kinder-Familien zu nennen. Vor allem in ländlichen Räumen, war günstiger Wohnraum bei guten Arbeits- und Lebensbedingungen für Frauen ein Argument für größere Familien. Bisher wurde diesem Faktor noch wenig Beachtung geschenkt. Aber auch hier zeigt die Entwicklung im Jahr 2017, dass dieser Faktor bedeutend ist.